Misophonie
Einleitung
Misophonie, oft als “Wut im Ohr” bezeichnet, ist eine Störung, bei der Betroffene eine extreme Intoleranz gegenüber bestimmten Alltagsgeräuschen entwickeln. Diese Geräusche, die als “Trigger” fungieren, können alltägliche menschliche Körpergeräusche wie Schlucken, Schmatzen oder Atemgeräusche sein, aber auch Geräusche von Tieren oder Maschinen. Die Reaktionen auf diese Geräusche sind oft intensiv und negativ, einschließlich Wut, Aggression oder Ekel. Obwohl Misophonie noch nicht als eigenständige Krankheit in offiziellen Diagnosesystemen anerkannt ist, gewinnt sie zunehmend an Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen und medizinischen Gemeinschaft. Dieser Artikel zielt darauf ab, ein umfassendes Verständnis von Misophonie zu vermitteln, indem er ihre Symptome, Ursachen, diagnostischen Kriterien und möglichen Behandlungsansätze beleuchtet.
Was ist Misophonie?
Misophonie ist eine selektive Geräuschempfindlichkeit, bei der bestimmte Geräusche starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Diese Geräusche, oft als “Trigger” bezeichnet, umfassen häufig menschliche Körpergeräusche wie Schmatzen, Schlucken oder Atemgeräusche. Aber auch andere alltägliche Geräusche wie das Klicken eines Kugelschreibers oder das Rascheln von Papier können Auslöser sein. Im Gegensatz zu Hyperakusis, bei der eine allgemeine Überempfindlichkeit gegenüber lauten Geräuschen besteht, ist Misophonie durch die spezifische Abneigung gegen bestimmte Geräusche gekennzeichnet. Die Reaktionen der Betroffenen sind oft reflexartig und können von Wut und Aggression bis hin zu Ekel reichen. Diese emotionalen Reaktionen sind individuell unterschiedlich und werden durch Faktoren wie die Art des Geräusches, persönliche Vorerfahrungen und den sozialen Kontext beeinflusst.
Typische Trigger
| Triggerausprägung in % | Graduierung Ärger/Wut (Skala 0–4) | Emoji |
|---|---|---|
| Essensgeräusche (96 %) | ||
| Schmatzen | 3,3 | 🤬 |
| Chips o. Ä. essen | 2,9 | 🤯 |
| Kaugummi kauen | 2,8 | 🤯 |
| Schlürfen | 2,7 | 🤯 |
| In einen Apfel beißen | 2,5 | 🤯 |
| Trinkschluckgeräusche | 2,4 | 🤯 |
| Atem-/Schniefgeräusche (85 %) | ||
| Schnarchgeräusche | 2,6 | 🤯 |
| Schniefgeräusche | 2,5 | 🤯 |
| Atemgeräusche | 2,3 | 🤯 |
| Niesen | 0,9 | 😒 |
| Körperbewegungen (78 %) | ||
| Schaukeln von Beinen | 2,0 | 😠 |
| Geige spielende Finger | 1,5 | 😠 |
| Kratzbewegung Finger | 0,7 | 😒 |
| Geräusche durch Finger (74 %) | ||
| Fingernägel bearbeiten | 2,0 | 😠 |
| Kugelschreiber klicken | 1,9 | 😠 |
| Finger auf Oberfläche tippen | 1,6 | 😠 |
| Schreiben auf Tastatur | 1,7 | 😠 |
| Essbesteck verwenden | 1,5 | 😠 |
| Mund/Kehlgeräusche (69 %) | ||
| Räuspern | 1,7 | 😠 |
| Husten | 1,6 | 😠 |
| Flüstern | 1,4 | 😠 |
| Küssen | 1,3 | 😠 |
| Gähnen | 1,1 | 😠 |
| Umgebungsgeräusche (59 %) | ||
| Musik von Nachbarn | 2,0 | 😠 |
| Sich unterhaltende Nachbarn | 1,6 | 😠 |
| Maschinengeräusche (Uhr usw.) | 1,2 | 😠 |
| Telefonklingeln | 1,1 | 😠 |
| Tiergeräusche | 1,0 | 😒 |
| Raschelgeräusche (42 %) | ||
| Plastiktütenrascheln | 1,3 | 😠 |
| Seiten umblättern | 0,6 | 😒 |
Quelle: HNO. 2022; 70(1): 3–13. Published online 2021 Jun 25. German. doi: 10.1007/s00106-021-01072-7
Symptome und Reaktionen
Die Symptome der Misophonie sind vielfältig und manifestieren sich sowohl physisch als auch emotional. Betroffene erleben bei der Wahrnehmung ihrer Triggergeräusche häufig eine sofortige und intensive Reaktion. Physische Symptome können eine Erhöhung der Herzfrequenz, Schweißausbrüche und Blutdruckveränderungen umfassen. Emotionale Reaktionen sind oft negativ und beinhalten Wut, Irritation, Aggression oder Ekel. Diese Reaktionen stehen oft in einem Missverhältnis zur tatsächlichen Intensität des Geräusches und können zu sozialem Rückzug und Vermeidungsverhalten führen. Viele Betroffene versuchen, Situationen zu vermeiden, in denen sie ihren Triggern ausgesetzt sind, was zu erheblichen Einschränkungen im täglichen Leben führen kann, wie Schwierigkeiten bei sozialen Interaktionen oder am Arbeitsplatz.
Ursachen und neuronale Korrelate
Die genauen Ursachen der Misophonie sind noch nicht vollständig geklärt, doch es wird angenommen, dass sowohl genetische als auch neurologische Faktoren eine Rolle spielen. Einige Studien deuten darauf hin, dass Misophonie mit anderen Störungen wie Tinnitus, Hyperakusis und Zwangsstörungen assoziiert sein könnte. Neurologische Untersuchungen, insbesondere mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), haben gezeigt, dass bei Betroffenen eine übermäßige Aktivierung des anterioren Inselkortex (AIC) und benachbarter Regionen auftritt. Diese Bereiche des Gehirns sind für die Verarbeitung und Regulation von Emotionen verantwortlich. Es wird vermutet, dass die Misophonie durch eine abnormale neuronale Aktivität und eine damit verbundene negative Bewertung der Geräusche im limbischen System entsteht. Diese Erkenntnisse legen nahe, dass Misophonie nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen ist, sondern ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren darstellt.
Diagnostik
Die Diagnose von Misophonie erfolgt in erster Linie klinisch, basierend auf der Anamnese und den berichteten Symptomen der Betroffenen. Es gibt keine standardisierten diagnostischen Kriterien in offiziellen Handbüchern wie dem DSM-V oder der ICD-11, jedoch wurden von Forschern wie Schröder und Dozier spezifische Kriterien entwickelt, um die Störung besser zu identifizieren. Diese beinhalten das Vorhandensein einer starken emotionalen Reaktion auf bestimmte Geräusche, die als unverhältnismäßig und unvernünftig erkannt wird. Zur Unterstützung der Diagnose können Fragebögen und Skalen wie der Misophonia Questionnaire (MQ) und die Amsterdam Misophonia Scale (A-MISO-S) verwendet werden. Diese Instrumente helfen, das Ausmaß der Symptome und deren Auswirkungen auf das tägliche Leben zu quantifizieren. Eine umfassende Diagnostik sollte auch eine HNO-ärztliche Untersuchung beinhalten, um andere Hörstörungen auszuschließen.
Therapie und Bewältigungsstrategien
Derzeit gibt es keine standardisierte Therapie für Misophonie, jedoch werden verschiedene Ansätze zur Bewältigung der Symptome eingesetzt. Eine wichtige erste Maßnahme ist die Aufklärung der Betroffenen über die Störung, was oft schon eine gewisse Erleichterung bringt. Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) hat sich als vielversprechend erwiesen, indem sie den Betroffenen hilft, ihre Reaktionen auf Triggergeräusche zu verstehen und zu kontrollieren. Technische Hilfsmittel wie Ohrstöpsel oder Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung können ebenfalls zur Reduzierung der Belastung beitragen.
Zu den Bewältigungsstrategien gehören das Vermeiden von Triggersituationen, das Verwenden von Musik zur Ablenkung und das Entwickeln positiver innerer Dialoge zur Beruhigung. Da Misophonie häufig mit anderen psychischen Störungen einhergeht, kann auch eine medikamentöse Behandlung in Betracht gezogen werden, insbesondere wenn Angst oder Depressionen vorliegen. Obwohl diese Ansätze individuell angepasst werden müssen, bieten sie den Betroffenen Möglichkeiten, ihre Lebensqualität zu verbessern.
Forschung und Ausblick
Die wissenschaftliche Forschung zur Misophonie steckt noch in den Anfängen, gewinnt jedoch zunehmend an Interesse. Seit der Einführung des Begriffs in den frühen 2000er-Jahren hat sich das Verständnis der Störung erweitert, insbesondere durch Studien, die die neuronalen Korrelate und möglichen genetischen Faktoren untersuchen. Dennoch gibt es viele offene Fragen, insbesondere hinsichtlich der genauen Ursachen und der Entwicklung effektiver Behandlungsmethoden.
Zukünftige Forschungsanstrengungen konzentrieren sich darauf, die biologischen und psychologischen Mechanismen der Misophonie besser zu verstehen. Dies könnte zur Entwicklung gezielterer Therapien führen, die über die derzeitigen Ansätze hinausgehen. Zudem ist die Einbindung der Misophonie in offizielle Diagnosesysteme ein wichtiges Ziel, um die Anerkennung der Störung zu fördern und den Zugang zu geeigneten Behandlungen zu erleichtern. Die zunehmende Vernetzung von Forschern und Betroffenen könnte ebenfalls dazu beitragen, das Bewusstsein und das Wissen über Misophonie weiter zu verbreiten.
Zusammenfassung
Misophonie ist eine komplexe Störung, die durch eine starke emotionale Reaktion auf bestimmte Alltagsgeräusche gekennzeichnet ist. Obwohl sie noch nicht offiziell als eigenständige Krankheit anerkannt ist, beeinträchtigt sie das Leben vieler Betroffener erheblich. Die Symptome reichen von physischer Unruhe bis hin zu sozialem Rückzug und können zu erheblichen Einschränkungen im täglichen Leben führen.
Die Forschung hat bereits einige Einblicke in die möglichen neuronalen und genetischen Grundlagen der Misophonie geliefert, doch bleibt noch viel zu entdecken. Aktuelle Therapieansätze, wie die kognitive Verhaltenstherapie und technische Hilfsmittel, bieten erste Möglichkeiten zur Linderung der Symptome. Dennoch ist weitere Forschung notwendig, um gezieltere und wirksamere Behandlungsstrategien zu entwickeln.
Aufklärung und Unterstützung sind entscheidend, um das Verständnis für Misophonie zu fördern und Betroffenen zu helfen, ihre Lebensqualität zu verbessern.
Weitere Informationen
- Misophonie: Wenn Alltagsgeräusche krank machen https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/72933/Misophonie-Wenn-Alltagsgeraeusche-krank-machen
- Misophonie: Wenn Essensgeräusche kaum zu ertragen sind https://www.geo.de/wissen/gesundheit/misophonie--wenn-essensgeraeusche-kaum-zu-ertragen-sind-33717514.html